"daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist".
Stuttgart Hauptbahnhof. Jeden Abend Leuchtschrift. Ein Spruch von G. W. F. Hegel, „der berühmteste Sohn der Stadt“, aus seiner „Phänomenologie des Geistes“.
Es ist nicht wahrscheinlich, schreibt Literaturprofessor Heinz Schlaffer, "dass sich an einem zweihundert Jahre zurückliegenden Streit über die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis ausgerechnet die Deutsche Bahn beteiligen und ihre Parteinahme auf eine derart spektakuläre Weise kundtun wollte. Gegen eine harmlose Deutung der Aktion spricht der Ort, an dem Hegels Devise angebracht wurde: gerade an dem Bahnhof, dessen Teilabriss geplant war und heute verwirklicht ist. Für den praktischen, aktuellen Zweck der scheinbar allgemeingültigen (und doch so anfechtbaren) Denkregel spricht auch der Zeitpunkt, zu dem an den international bekannten Künstler Joseph Kosuth, damals Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, der Auftrag erging, Hegels Diktum in Leuchtschrift hoch oben an der Bahnhofsfassade zu verkünden.Den Politikern, Ingenieuren und Unternehmern kamen der berühmte Philosoph Hegel und der berühmte Künstler Kosuth gelegen, um dem prekären Vorhaben den Glanz bedeutsamer Worte und fragloser Sicherheit zu verschaffen. Praktische Bedenkenlosigkeit erhielt durch den einschüchternden Namen eines Philosophen höhere Weihen und sollte so die Einwohner der Stadt auf die Seite des Projekts ziehen, ehe ihnen dämmerte, worum es ging und welche Folgen es haben würde. Vermutlich spürten sie damals selbst die „Furcht zu irren“ und setzten sich mit Hegels forschem Paradox über ihre Zweifel hinweg. Wenn die Kosten von Stuttgart 21 dadurch nicht noch weiter steigen würden, machte der jetzige Stand der Erkenntnis eine Ergänzung des missbrauchten und irreführenden Zitats notwendig: „ daß diese Furcht vor der Furcht zu irren schon der Irrtum selbst war“.
Man muss es dem Literaturprofessor und Nietzsche-Anhänger nachsehen - er versteht schlichtweg Hegel nicht. Die Furcht vor dem Irrtum war für Hegel nichts anderes als Furcht vor der Wahrheit. Und das Wahre ist für Hegel bekanntlich das Ganze: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen…, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist". Die Furcht zu irren, mag auch in Stuttgart schon der Irrtum sein, sofern man die Wahrheit nicht wissen wollte, die es am Ende erst ist.
Und Kunst, sagt der Kunstsoldat, fürchtet den Irrtum ohnehin nie.