Sonntag, 26. Februar 2012

Das Leben ist ein langer breiter Fluss und Kunst schwimmt überall





Ein normaler Industriebetrieb, der Millionen Konsumenten mit Produkten bedient, wird heute von wenigen Leuten gehalten. Viele strömten in die Verwaltungen, wo man ihnen nach einiger Zeit erklärte, dass sie hier ebenfalls überflüssig seien. Nun haben sie hin und her überlegt, und wurden schließlich Künstler. Die einzige Möglichkeit, handwerklich tätig zu sein, dabei Sinn zu fühlen, und auf echten Ruhm und echte Anerkennung zu hoffen. Sie besuchten Akademien, wo man erfolgreiche Kunst lernen kann, oder, wenn es mit der Akademie nicht klappte, Kunstkurse, oder arbeiteten einfach zu Hause ein didaktisch mehr oder weniger gut gemachtes Lehrbuch durch.




Jetzt wird die industrielle Massenproduktion hart von der Kunstproduktion verfolgt. Zwar ist Kunst immer noch weitgehend handwerkliche Einzelfertigung, aber jede Einzelanfertigung wartet in einer gigantischen Halde an Einzelanfertigungen darauf, als Werk eines genieverdächtigen Individuums entdeckt zu werden. Der künstlerischen Einzelanfertigung geht es so wie einem einzelnen Industrieprodukt, neongrell verpackt muss es jeden Vorbeilaufenden anschreien. Nur läuft der Vorbeilaufende meistens weiter, und die Fertigung muss schreien. Besser schreit es sich schon, wenn man in einer bekannten Galerie hängt oder von einem renommierten Verlag auf Vorlesetour geschickt wird. Diesbezüglich kann man schon mal leiser rufen.




Die kühne Idee der 60er-Avantgarde, Kunst zu enthierarchisieren bzw. zu demokratisieren, scheint nicht zu funktionieren. Oder doch, wenn man davon ausgeht, dass in einer Kunstdemokratie Masse vor Qualität geht. Außerdem: Was heißt "Qualität"? Qualität ist eine Frage der Kriterien und der Institutionen, die Kriterien definieren und anwenden. Eine Jury kann Kriterien definieren und diese auf die Masse der Einsendungen so anwenden, dass nur ein einziger Preisträger herauskommt. Kunstverkäufer können die Menge der Käufe als Kriterium nehmen und danach "Bestenlisten" erstellen. Das allerdings kann Kunstkritiker wieder dazu bringen, zu behaupten, der Preisträger produziere ideenlose Wiederholungskunst und die Bestenliste enthalte von Platz 10 bis Platz 1 nur oberflächlichen Schwachsinn. Dann haben Kunstkritiker offensichtlich andere Kriterien.




Ein überzeugenderes Kriterium ist offensichtlich die Zeit. Jedenfalls ist die Zeit gnadenlos gegen die Masse der Kunst, übrigens auch gegen Bestenlisten und Kritiker, in dem sie das meiste einfach vergisst. Darin kann sie sehr eigenwillig sein, kann selbst einen für eine ganze Periode gefeierten Kunststar vergessen, dafür nach Jahrzehnten einen zuvor nie Gefeierten, nicht mal lokal Anerkannten, in den Kunsthimmel heben. Dieses Zeitkriterium ist zugleich die Hoffnung aller sich verkannt fühlenden Zeitgenossen, die es aufgegeben haben, von ihrer Zeit noch irgendetwas Erhebendes zu erwarten. Sie sind die große Masse, und jedes Teil dieser Masse kreiert endlos weiter, weil die Zeit ebenfalls endlos lang ist, selbst wenn man schon längst tot ist. Die lebendige Kunst hofft auf die tote.

Samstag, 18. Februar 2012

Ganz böser Kunstexzess (2)


Nur der Exzess rechtfertigt die Kunst. Im zweiten Teil zeigen wir, wie man das, was von einem Exzess ohnehin verlangt wird, noch überschreiten kann…





Der Exzess schaut sich kurz um. Der mit dem Seppelhut scheint der Exzessmaster zu sein. Er deutet immer mit der Zigarette an, wie man die Sache noch exzessiver gestalten könne. Der Frau sollen er das Knie ihres Mannes unters Kinn geben. Dafür schneidet er ein wenig an ihr herum. Ihrem Mann steckt er als Gegenmotiv zur durchscheinenden Liebesmetaphorik das Messer ins Gesicht. Die Kinder liegen noch im Keller. Er holt sie rauf. Eins davon kann er nicht brauchen. Die Dreizehnjährige passt ganz und gar nicht ins Gesamtdesign. Er macht sie deshalb auf und presst sie unter die Frau. Das stimmt, weil es die Frau auf irrsinnig komische Weise hebt. Den Rest legt er auf die Dogge. Der Master wird trotzdem nervös. An der Sache scheint noch immer irgendetwas zu fehlen. Er soll die Nachbarin dazu holen. Aber die ist nicht zu Haus. Stattdessen nimmt er eine vorbeilaufende Zahnarzthelferin von der Strasse. Aber die will wieder der Master aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen nicht dabei haben. Zum etwas enttäuschenden Schluss wirft er die Helferin nebst ein Hände, Handtasche, Augen, Zahnbrücken und anderen Überresten in die Badewanne nebenan...

Die Differenz zur normalen, ansonsten stinklangweiligen Kunst macht es möglich, einen Sachverhalt zu entdecken und zu formulieren, der seitdem zu den Eigengesetzlichkeiten des Kunstexzesses gehört, aber als solche erst spät in die erneuerte Kunsttheorie aufgenommen wurde: Um ein Kunstwerk interessanter zu machen, muss man sogar einen Gehirnschaden im Kauf nehmen. - Das soll freilich nicht besagen, dass ständig Extrempositionen eingenommen werden müssen. So ist die bedingungslose Unterwerfung unter den Exzess zugleich Appell an die bedächtige Kunst, und die Angesprochene wird als sentimental, spießig und verkitscht charakterisiert, wenn sie nicht entgegenkommt.